Irgenwo las ich, dass stets, wenn man die Worte „früher„ oder „damals„ ausspricht, ein weiteres einzelnes Haar seine Farbe verliert und sich grau oder weiß färbt. Nun, mein Resthaar ist mittlerweile insgesamt silberweiss, grau – oder wie man sagt: friedhofsblond. Ob ich wohl zu häufig in Erinnerungen schwelge?
Vermutlich nicht häufiger, als jeder andere auch, wohlwissend, dass die Erinnerung oftmals gern mit goldenem Pinsel malt. Nicht immer war früher alles besser.
Beispielsweise ein notfälliger Besuch beim Zahnarzt: ich erinnere mich noch sehr gut an mein erstes Zahnarzterlebnis bei Dr. Welk in Gelsenkirchen-Erle, als ich etwa zehn oder elf war. Dr. Welk war in Wirklichkeit kein „Dokter“: auf seinem Praxisschild stand „Karl Welk, Zahnarzt“, aber man sprach ihn ehrfurchtsvoll mit Herrn Doktor an – eher furchtvoll, denn sein alter Bohrer wurde mit einem Transmissionsriemen angetrieben. Eine kühlende Wasserspülung hatte der Bohrer nicht, was zur Folge hatte, dass der Zahn beim Aufbohren richtig heiß wurde, verbrannt roch – und höllisch weh tat, weil eine betäubende Spritze nicht einfach so gegeben wurde.
Ein solches, erstmaliges Erlebnis dieser Art beim ihm hatte bei mir zur Folge, dass ich von da ab jahrzehntelang eine furchtbare Angst vor Zahnarztbehandlungen mit mir rumschleppte, die mich schon Tage vor einem Praxistermin ängstlich und ruhelos machten.
Nee, früher war nicht immer alles besser.
Aber vieles war anders.
So erinnere ich mich gern daran, dass wir als Kinder in den 50er Jahren den größten Teil des Tages spielend auf der Straße verbrachten. So lange, bis es duster wurde und die Laternen angingen.
Dass wir beinahe den ganzen Nachmittag mit unseren Hudora-Rollschuhen – die mit den Eisenrädern – geräuschvoll die Fahrbahnen rauf und runterfuhren. Und dass wir glaubten, dass die evangelischen Kinder mit HUDORA-, und die katholischen bevorzugt mit GLORIA-Rollschuhen fuhren.
Ich erinnere mich auch daran, dass es damals viele Männer mit ´nem appen Bein oder mit ´nem appen Arm gab. Die mit zwei appen Beinen fuhren dann meist so einen dreirädrigen Rollstuhl, der mit Armhebeln bewegt wurde. Die appen Beine waren meistens zugedeckt.
Ja, und Kippensammler…
Die gab es auch: armselige Männer, die immer nur nach unten guckten, und nach weggeworfenen Zigarettekippen Ausschau hielten, die sie dann einsammelten, um sich später daraus den noch unverbrannten Tabak herauszufriemeln, aus dem sich dann neue Zigaretten drehen ließen. Mein um zehn Jahre älterer Bruder machte das auch. Sieben bis acht Kippen ergaben eine neue Zigarette.
Einige der alten Zigarettenmarken, wie Juno, Overstolz, Ernte, Simon Arzt, Muratti privat, Lord, Chesterfield, Reval, Roth-Händle wurden an den im Kohlenpott bekannten „Seltersbuden“ (Trinkhallen) auch einzeln verkauft.
Diese kleine frivole Zigarettengeschichte machte damals die Runde:
ZIGARETTEN UNTER SICH.
Auf einem ECKSTEIN saß Frau PEER,
zog über ihre Nachbarn her.
„Frau ERNTE,“ sprach sie arrogant hat´s mit dem STUYVESANT!“
„Das ist ja äußerst delikat“,
meint die MURATTI ganz privat.
„Nun ist mir klar, aus welchem Grund,
die JUNO ist so dick und rund.“
Der SIMON ARZT, der alte Fuchs,
verriet es an die kleine LUX.
Und gestern nachmittag beim Tee,
da wußte es auch die HB.
„Die JUNO, glaub es mir aufs Wort,
bekommt demnächst ´nen kleinen LORD!“
Doch, dass es nicht sich so verhielt,
gestand die kleine CHESTERFIELD.
„Unmöglich“, sagte sie galant,
„niemals von PETER STUYVESANT,
denn er gehört zu Kavalieren,
die Filter tragen beim Poussieren!“
Aus längst verrauchten Zeiten….
Danke lieber Lo für das tolle Fluppengedicht.
Auch über das „friedhofsblonde“ Haar habe ich herzlich gelacht. :-)))
Da fällt mir dann beim lesen gleich meine Jugend ein.
Wir lebten auf einem Hof und meine Eltern arbeiteten für die Bauern. Ich hielt diese damals für äußerst reich, denn sie lebten, obwohl sie keine Kinder hatten, in einem Haus mit bestimmt 10 Zimmern. In einem davon stand sogar ein Klavier, was für mich ausreichte, sie als Millionäre anzusehen.
Meine Brüder hatten zu der Zeit nicht einmal ein eigenes Bett und mussten sich eins teilen (als einziges Mädchen war ich in der Beziehung bevorzugt).
Die Bäuerin rauchte übrigens Atika, ein weiteres Anzeichen für unendlichen Reichtum. Der Name klang so vornehm.
Mit der Juno meines Vater zusammen führte Atika (in beiden Fällen stiebitzt) zu meinen ersten Raucherlebnissen.
Ja, früher war nicht alles besser … !
Grüßli 🙂
So ähnlich erging es mir in meiner KIndheit auch: Menschen, die ein Auto besaßen, oder auch nur schon ein eigenes Badezimmer mit eigenem Klo waren für mich „bessere“, reiche Leute – erst recht, wenn sie ein Klavier in der Wohnung stehen hatten.
Später am gestrigen Abend fiel mir noch der Vater „unserer“ Bäuerin ein, der aber nicht dort im Haus wohnte. Der hatte 2 „appe Beine“ also gar keine mehr. Und bewegte sich auf einem Rollbrett durch die Gegend, ähnlich wie die Rollbretter aus dem Baumarkt, mit denen man Möbel durch die Wohnung bewegt. Um sich abzustoßen, benutzte er einen Stock mit einer Eisenspitze. Ich war erst 7 J. als er mir das erste mal begegnete, aber Angst hatte ich vor ihm nicht. Das er keine Beine hatte, war für mich nicht so wichtig, das Rollbrett fand ich allerdings sehr spannend.
Das Zigarettengedicht ist ja einmalig schön.
Da ja der ALLGEMEINE Reichtum in unserem Land so gravierend voranschreitet, sehe ich auch heute viele, viele Leute, die sich nach weggeworfenen Kippen bücken. Viele werfen ja heute halbe Zigaretten weg, weil die Bahn oder der Bus kommen.
Manches kommt (leider) immer wieder.
Für die damaligen Kippensammler wäre es heute das Paradies.
kippensammler sehe ich auch heute noch in berlin. hier wird alles gesammelt, was noch irgendwie verwertbar ist. fast wie damals im krieg, wenn sie die toten nach brauchbarem durchsuchten, ihnen stiefel, jacke, etc. auszogen. besser, man schläft in berlin nicht auf einer parkbank ein…
…nachher ist wohl auch noch die Parkbank, auf der man lag, weg…
😉
Oh, ist das schön, lieber Lo!
Gerade haben sich meine letzten 3 dunkelgrauen Haare hellgrau gefärbt!
Gruß Heinrich
Lieber Heinrich,
mit noch drei Haaren sind Sie ja noch ganz gut dran. Wenn ich einmal nur noch ein einzelnes Haar übrig habe, werde ich es Bruno nennen und ihm ein schönes gutes Shampoo spendieren, damit es mich nicht auch noch verlässt.
Liebe Grüße!
Lo
Hallo Lo,
das Zigarettengedicht kannte ich noch nicht, das ist echt toll !!! Aber auch eine schöne Geschichte aus der Zeit wo eine Zigarette noch lebenswichtig erschien….übrigends geht deine Erzählung bis in die Jetztzeit…mein Sohn und seine Kumpels machen die Gegend unsicher und jagen alten Omas Schrecken ein…auf HUDORA Rollern (Klar, Hamburg ist evangelisch 🙂
Lieber Gruss aus der Hansestadt von Jürgen
…. Rolling home, rolling home to good old Hamburg, 😉
Ein wunderbarer Beitrag.
Im Rinnstein liegt sie – ach die Dreia
arg vergammelt und nicht teia … 😉
…angequalmt und ausgespuckt,
bis sich jemand danach buckt. 😉
Hallo erst mal. Bin durch Zufall hier gelandet. Bin nur Bj. 63 in Bismarck und Erle groß geworden. Habe mich zum teil in die eigene Kindheit zurück versetzt gefühlt. Bin früher (ende 60er Jahre) viel mit der Mutter die Bismarckstraße entlang zur Bahnhofstraße gelaufen. Es waren viele Leute mit diesen Dreirädern und Vierrädern unterwegs. Wenn die Beine abgedeckt waren (schwarze Plane oder Decke) sahen die Kisten für mich wie Särge aus. Auf der Bahnhofstraße noch mehr Kriegsversehrte, Leute mit Holzbeine, Krücken, einem Arm – Arm mit Haken, Augenklappe usw.. Es standen auch viele “ Pflaster Verkäufer“ und Männer mit Bauchladen herum . In Erle, mitte der 70er war ich 3-4 mal beim Zahnarzt Dr. Klopf (Surkampstraße) gewesen. Für mich ein echter GRAUS , Moderne Praxis, aber auch keine Spritze und kein Wasser beim Bohren. Zu der Zeit war ich ca. 1,5m groß, außer es wurde gebohrt, da war ich mindestens 2m groß. Nach diesen Erfahrungen hatte auch ich sehr sehr lange keinen Kontakt mehr zu Zahnärzten. Zum Thema Zigaretten erinnere ich mich auch noch an die Marke Overstolz und den Tabak Batavia. Meine erste Zigarette war eine Ernte 23, die ich meiner Tante stibitzte. Waren die Zeiten damals besser? Nein sie waren wirklich nur anders. Nach mehr als 30 Jahre mit blauem Dunst bin ich nun Nichtraucher.
Aber lasst euch das rauchen nicht vermiesen. LG
Hallo Eugen,
Dankeschön für Deine Erinnerungen an „damals“. Ja, nicht immer war früher alles besser. Auf der Surkampstrasse 47 hab ich meine kaufm. Lehre bei Hues absolviert.
Lange her….?
Viele Grüße!