Heute fühle ich mich geadelt, denn ich habe heute einen Brief bekommen.
Wer mich privat kennt, weiß, dass ich Briefe oder Karten am liebsten mit der Hand schreibe. Ich mag es, Gedanken oder gute Wünsche an meine Adressaten gern schwungvoll mit feinem Stift – sozusagen vom Hirn in die Hand – aufs ebenso feine Papier zu bringen. Ich mag Briefeschreiben – und natürlich auch, welche zu bekommen. Besonders, wenn sie sehr persönlich verfasst sind, und ich mich beim Lesen wirklich angesprochen fühle.
So, wie heute.
Denn Hermann Beckfeld hat mir einen sehr persönlichen Brief geschrieben.
In der heutigen Samstagsausgabe der Ruhr-Nachrichten
Seit April 2012 schreibt Hermann Beckfeld, ehemals Chefredakteur der Ruhr Nachrichten, jeden Samstag offene Briefe: oft an Prominente, aber auch an Menschen, die etwas ganz Besonderes erlebt oder Großartiges geleistet haben.
Es sind wunderbare, sehr persönliche Briefe, so dicht beim Adressaten, dass man beim Lesen merkt: Hermann Beckfeld mag Menschen wirklich, zit.: „Ich mag die Nähe zu Lesern, zu Zuhörern, ich mag die Geschichten hinter der Geschichte, die ich auf Lesungen erzähle: im Pressehaus, in Kneipen und Kirchen, auf Schiffen und in Zügen, natürlich in Buchläden…“
Es wurden mittlerweile hunderte solcher besonderen Briefe, und ein guter Teil davon ist beim Verlag Henselowsky und Boschmann in drei Bänden erschienen.
Und nun die Zeilen, die Hermann Beckfeld mir heute in den Ruhr-Nachrichten widmet:
Brief an Lothar Lange
Ihre Reaktion auf Ihre Kindheit imponiert mir.
23 Jahre lang bringen Sie sich für Kinder- und Jugendliche ein…
Lieber Lothar Lange,
vor mehr als 40 Jahren haben Sie Gelsenkirchen verlassen, leben seitdem in Oberhausen. Doch die Liebe zu Ihrem Geburtsort, zu den Menschen und deren Geschichten zieht Sie immer wieder zurück in Ihre Heimatstadt. Es ist wohl auch die Reise in die eigene Kindheit und Jugend, die Sie so häufig nach Gelsenkirchen führt.
Dabei war Ihr Leben als Kind, das schnell erwachsen werden musste, schwierig. Sie wollen diese Zeit nicht verdrängen, nicht vergessen. Ganz im Gegenteil: Mit Ihrer unbändigen Lust aufs Schreiben, mit der Leichtigkeit der Worte und spürbarem Vergnügen an der persönlichen Geschichte halten Sie die Vergangenheit fest; was Sie anfangs nur für Ihre zwei Kinder aufgeschrieben haben, darf heute jedermann lesen und hören. „Vielleicht“, sagen Sie, „war mein Antrieb dazu, den Erlern zu zeigen, dass aus dem kleinen Lothar doch noch was geworden ist.“
Der kleine Lothar, unehelich geboren, dessen Mutter aus Ostpreußen kommt, eine einfache Frau vom Land mit bräitem Dialekt, eine Fürsorge-Empfängerin, die sich mit Gaststättenputzen etwas dazuverdient. Sie wohnen in Erle, in zwei Dachgeschosszimmern mit Kohleofen, Wasserentnahme im Treppenhaus, einer Toilette auf halber Treppe. Das Geld reicht hinten und vorne nicht. Kleidung, Schuhe, Bettwäsche gibt es nur über Fürsorge-Gutscheine, die im Buerschen Kaufhaus Althoff eingelöst werden. Sie schämen sich für die Armut, die Bedürftigkeit.
Ihre Mutter, die Sie als lebenslustig beschreiben, bleibt sehr oft bis weit nach Mitternacht weg, obwohl sie weiß, dass ihr kleiner Sohn keinen Wohnungsschlüssel besitzt. Häufig sitzen Sie, gerade mal sechs Jahre alt, in einer schützenden Nische hinter der Kinokasse des nahen Erler Wigger-Theaters, warten, dass Mama endlich heimkehrt.
Als Elfjähriger, der aus der Schule kommt, müssen Sie miterleben, wie die Möbel auf einen Lastwagen geladen werde. Zwangsräumung als Konsequenz aus Mietrückständen, Lebenswandel und mangelnder Sauberkeit.
Sie finden eine Bleibe in Gelsenkirchen-Beckhausen, in einer Obdachlosen-Baracke, im Revier-Volksmund Mau Mau genannt. Die Flucht aus dem Milieu ins Bürgerliche macht nur eine Vernunftehe möglich. Ihre Mutter heiratet einen 80-jährigen Witwer, für den sie geputzt hat. Sie sind 12, Ihre Mutter 47 Jahre alt.
Ihre Reaktion auf Ihre Kindheit imponiert mir. 23 Jahre lang bringen Sie sich im Vorstand einer caritativen Kinder- und Jugendhilfe-Einrichtung ein, versuchen, als Lesepate der Stadtbibliothek Oberhausen mit Geschichten den Kindern Spaß am Lesen zu vermitteln.
Nach der kaufmännischen Lehre im Lebensmittel-Einzelhandel schlagen Sie sich durch als Matratzenfabrikarbeiter, Bürogehilfe, Getränkefahrer, Stahlwerksarbeiter, als „Platten-Jockey“, später auch als Schauspieler bei „Preziosa 1883“, einem der ältesten Amateurtheater in NRW. Zuvor jedoch nutzen Sie die vierjährige Bundeswehrzeit, um an der Abendrealschule zum Versicherungskaufmann ausgebildet zu werden, der sich später in Oberhausen selbständig macht.
Aus Ihren ersten Aufzeichnungen werden Dönekes über Menschen, Geschäfte und Begebenheiten, mit denen Sie die 50er-/60er-Jahre-Revue „Pettycoat und Wirtschaftswunder in Erle“ formen und aufführen. Die Reaktion ist überwältigend. Die Gemeindehäuser sind voll, Sie müssen Extravorstellungen geben.
Mit sechs Mitstreitern gestalten Sie das Internetforum „Gelsenkirchener-Geschichten.de.“ Sie schreiben nicht nur selbst, auch mehr als 4000 User bringen sich mit Beiträgen über historische Ereignisse, persönliche Erlebnisse ein. Sie organisieren Kunstausstellungen, moderieren Lesungen, interviewen Zeitzeugen. Sie geben ein Buch heraus, eine Stadtbereisung als moderne Form der Heimatkunde. Mittlerweile füllen Sie zudem einen eigenen Blog mit dem schönen Namen Kohlenspott mit Reimzwang, Wortwitz, Tiefsinnigem und dem „latenten Hang zum Nonsens“.
Lieber Lothar Lange,
ganz besonders mag ich Ihre Geschichte über den älteren Herrn aus Österreich, der als junger Mann für ein Schalke-Spiel nach Gelsenkirchen reist. Er verliebt sich in ein Mädchen, bleibt in der Stadt und heiratet es. Er erzählte Ihnen, dass seine Frau vor einigen Monaten gestorben ist, er aber nicht zu seinem Sohn nach Berlin ziehen möchte. „Ich kann meine liebe Frau hier nicht allein auf dem Friedhof lassen.“ Er selbst liegt nach einem Herzinfarkt auf Leben und Tod. „Die Ärzte haben mich zurückgeholt. Leider.“ Als Sie ihn wenig später besuchen wollen, stehen seine Möbel auf dem Bürgersteig. Der Mann ist tot.
Freundliche Grüße
Hermann Beckfeld
Lieber Herr Beckfeld,
ich fühle mich in der Tat geadelt, mich als kleines Kohlenpott-Licht in die Riege derer
die einen Ihrer wunderbaren persönlichen Briefe erhalten haben, einreihen zu dürfen.
Herzlichen Dank dafür!
Ihr Lothar Lange
Lieber Lo,
ein sehr schöner, persönlicher Brief, in dem alle Leserinnen und Leser viel über Lothar Lange erfahren. Vor allem auch die, die eventuell noch nie in Ihrem Blog gelesen haben. Die werden nun sicher mal Google fragen, wo man im Netz „lothar lange gelsenkirchen“ findet.
Was ich gar nicht gut gelungen finde, ist Ihr „ausgeschnittener“ Kopf mitten im Text. Naja, das soll die gute Absicht nicht schmälern.
Gruß Heinrich
Lieber Heinrich,
ich freue mich auch über diese Zeilen – auch über Ihre.
Und gottlob ist mein Kopf ja noch dran.
Gruß Lo
Fühl dich um Himmels willen bloß nicht geadelt, lieber Lo! Wir mögen dich doch ganz genau so, wie du bist: So wunderbar geerdet, aber mit Flügeln der Fantasie, die bis in den Poetenhimmel reicht! Und von dort regnet es dann den Original Kohlenspott-Humor auf irdische Gemüter … Gratuliere zu der ehrenvollen Verbriefung!
Herzlichen Dank, liebe iGing – auch für´s überschwängliche Lob.
Was das Geadelte anbetrifft:
ich werde mir kein Schild mit der Aufschrift:
HULDIGUNGSTERMINE NACH VEREINBARUNG
anfertigen lassen
Liebe Grüße!
Lo
Lieber Lo
Diese wunderbare Hommage hast du ganz einfach verdient mit allem, was du mit Herz und Seele „auf die Beine gestellt“ hast.
Ich gratuliere dir von Herzen zu dieser wunderbaren Würdigung, freue mich mit dir und wünsche dir auch weiterhin viel Elan und Feuereifer für deine wertvollen Unternehmungen.
Herzlichen Gruss in den schönen Spätsommersonntag,
Brigitte
Liebe Brigitte,
wennn man für etwas gelobt wird, was man selbst mit Spaß und Freude macht,
dann ist es ja fast gar nicht mehr auszuhalten.
Merci vielmal – Dankeschön
und liebe Grüße in die Schwyz!
Lieber Lo!
Da Sie nun so wunderbar geadelt wurden, weiß ich nicht recht, wie ich Sie ansprechen soll. Sir Lo? Ihro Pottmajestät Lo? Oder ganz passend Ihre LOrdschaft? 🙂
Untertänigste Grüße
Mallybeau
Liebe Mallybeau,
meine ostpreussische Mutter schimpfte mich,
wenn ich etwas im Schilde führte, gern „Lorbass!“
was in etwa dem Schlingel gleichkommt.
Ich bleibe für Sie immer gern
Lo 😉
Sehr gerne, lieber Lo. Wenngleich mir Lorbass als bisher unbekanntes Wort auch sehr gut gefällt 🙂
Lieber Lo, das ist ein wunderschöner Brief, und er fasst vieles von dem zusammen, was ich (obwohl ich hier regelmässig lese) nicht über Dich gewusst habe. Spannende Geschichte. Gratuliere zur Adelung!
Ich danke Dir – auch für´s regelmässige Lesen und überhaupt…
Liebe Grüße nach Solothurn!
Lo
Wennse dat nich vadient has, dann weißich et aunich. Schappo!!!
Ker, wat soll ich da sagen?
Ich weisset aunich.
Mir sacht doch keiner wat! 😉
Lieber Lo,
ich freue mich für dich! Eine sympatische, öffentliche Ehrung.
Und wir erfahren viel über deine Kindheit, die alles andere als ein Zuckerschlecken war.
Du hast dein Schicksal selber in die Hand genommen und dich zudem noch für andere engagiert. Beeindruckend!
Schön, das es Menschen wie dich gibt.
Liebe Grüße
Dankeschön, liebe SchlaMü
Na ja, viel Glück bei allem – und den richtigen Menschen zum richtigen Zeitpunkt zu begegnen, gehört auch immer dazu.
Alles Gute für Dich und die Deinen!
Lo
Ich bin jetzt allerdings auch auf die Briefe von Hermann Beckfeld neugierig geworden. „Brief an Inspector Barnaby“ … muss ich lesen! 😉
Lieber Lo, zur Feier des Tages mal lieber Lothar, aber ohne Familienname, sonst wird es zu förmlich.
Du zeigst uns hier, dass auch jemand mit einer sehr schweren Kindheit etwas werden kann – dazu muss man nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren sein.
Ich freue mich, dass ich dich hier erleben darf.
Lieben Gruß von Clara
Wunderbar!