Alte Kinos: Wigger-Theater in Gelsenkirchen-Erle

Verdelli! Wenn die Haare grau werden, werden die Erinnerungen grün.
Das scheint zu stimmen: ich erinnere mich an so viele kleine Details aus der Zeit als kleiner „Köttel“ (hier im Pott war man kein Knirps). Aufgewachsen dort, wo die Kohlenzeche Graf Bismarck die Menschen ernährte, wo Wäsche auf der Leine nicht lange weiß blieb, der Himmel im Sommer aber durchaus auch manchmal blau war. Für uns jedenfall, denn ein anderes Blau kannten wir nicht an den Sommertagen, an denen wir uns, meist mit Unterbuxe, im öligschillernden Wasser des Rhein-Herne-Kanal erfrischten. Unvergessen.

Und natürlich „Kinno!“ Lange her…

Auf der Cranger Straße in Gelsenkirchen-Erle befand sich zwischen dem Friseurgeschäft Wieschen und der Gaststätte „Erler Hof“ das Wigger-Theater

In dem Haus rechts daneben bin ich aufgewachsen. Gleich neben dem „Kinno“.

In dem zur Straße hin offenen Vorraum waren beide Wände bis zum eigentlichen Kinoeingang mit beleuchteten Schaukästen bestückt, in denen die Filmplakate und Szenenfotos des aktuellen und der kommenden Filme zu betrachten waren.

Links befand sich das hölzerne Kassenhäuschen mit Drehteller und einer gelöcherten, ovalen Sprechscheibe, die von der Kassiererin auch separat zu öffnen war. Die begehrten Eintrittskarten lagen hier in Rollen, farbig nach Sitzplatzkategorie sortiert und wurden von der Dame hinter dem Schalter einzeln abgerissen.

Links hinter dem Kassenhäuschen befanden sich zwei Schaukästen mit den Plakaten für das Kinderprogramm: Fuzzy Jones, Lassy LaRock, Dick & Doof, Pat & Patachon, Toxi, das „Negermädchen“, Herkules – und Schlagerfilme mit Conny Froboess und Peter Kraus…

Die passend zu aktuellen Filmen für 30 Pfennige angebotenen Filmprogramme bestanden meist aus einem einzelnen Blatt, bedruckt in bräunlichem oder grünlichen Farbton mit Filmfotos, mit Infos über Handlung und Darsteller, bei Schlagerfilmen fanden sich manchmal auch die Schlagertexte darauf. Weil Filmprogramme aber meist nur von Erwachsenenfilmen handelten und dazu auch noch extra was kosteten, blieben sie für uns „Köttel“ eher uninteressant.

Hier im Wigger-Theater verliebte ich mich als kleiner Bengel unsterblich in Cornelia Froboess, als sie mit Peter Kraus die Teenager-Melodie sang und wollte von da an unbedingt Schauspieler werden, wenn ich später einmal groß bin.

Das meist sonntägliche Filmvergnügen der Kindervorstellung kostete damals 50 Pfennige, die zu Hause erst einmal mühsam abgeluchst werden mussten.

Hereinspaziert also:

Mit der gelösten Karte in der Hand standen wir Kinder Schlange vor der verglasten zweiflügeligen Eingangstür, die immer erst kurz vor Filmbeginn zum Einlaß geöffnet wurde.

Man betrat dort den Vorraum, in dem sich links eine schwarze Theke befand, auf der alles aufgebaut war, was dazu geeignet war, den Kinobesuch zu versüßen, wenn man es sich denn leisten konnte: Lakritzschnecken, die roten Faam-Pfefferminzrollen, Salinos, die als Plombenzieher bekannten „Nappo-Blocks“, Dr. Hillers Pfefferminz, Schokolade, Erdnüsse, Sinalco…

Dahinter links, an den Toiletten vorbei, die man auch während der Filmvorführung im Dunklen „nur der Nase nach“ gut finden konnte, endlich der Kinosaal:

Der typische schwere Kinoduft *, ein Gemisch aus Polster, Pfefferminz und gelutschten Drops.

Der staubschwere rote Vorhang vor der Leinwand, der sich bei langsam verlöschenden Licht geräuschvoll nach dem dritten Gong zu beiden Seiten schob und den Blick auf die scharzweiße Fox-tönende Wochenschau freigab, gefolgt von der gesprochenen Dia-Ton-Werbung, wie diese hier des hiesigen Möbelgeschäftes Timmerkamp, das sich gleich gegenüber des Wigger-Kinos befand:

„Geht’s darum, ein Heim zu gründen,
muß man dafür die Möbel finden,
die einem für das ganze Leben
Behaglichkeit und Freude geben!“

Das Wigger-Kino gehörte Frau Stalter, einer blonden, auf uns Kinder streng wirkenden Dame mit tiefer Männerstimme, die zudem öffentlich rauchte, was damals selbst in Erle noch als ziemlich unanständig galt.

Ab 1957 gab es auf der Bühne vor der Leinwand nach dem Filmgenuss hin und wieder eine ganz besondere Zugabe.

Angekündigt wurde Billy Panama, der aus Amerika stammende Jojo-Weltmeister. Das Jojo, ein neue, ebenfalls aus dem fernen Amerika kommenden Modeerscheinung. Billy Panama zeigte auf der Bühne des Wigger-Theaters die verrücktesten Tricks mit seinem roten freilaufenden „Original Billy-Panama-JoJo“.

Wigger 5 Lo

BILLY PANAMA, Jojo-Weltmeister aus Amerika

Einen leibhaftigen Weltmeister aus Amerika hier bei uns in Erle zu erleben, war für sich allein schon sensationell, doch seine Kunststücke, die er auf der Wigger-Bühne darbot, waren das Allergrößte.

Billy Panama liess sein surrendes JoJo zu allen Seiten in die Luft schnellen um es dann ebenso rasant und zielsicher wieder in seine Hand zurückkommen zu lassen.
Oder den Aufzug-Trick: das sich schnell drehende Jojo verharrte erst am unteren Ende des Bandes – ein kleiner Fingerschnipp – und es blieb in halber Höhe stehen, obwohl es sich immer noch drehte. Plötzlich nahm er mit beiden Händen geschickt den Faden, spannte daraus ein Dreieck und ließ das immer noch schnurrende JoJo in der Mitte des Dreiecks hin und herpendeln. Das war dann der Baby-Wiege-Trick. Begeistert hat uns auch, wenn Billy Panama sein rasant drehendes JoJo unten auf den Bühnenboden leicht aufsetzen ließ, so dass es nach vorn „fahren“ wollte. Er lief dabei hinterher- und es sah so aus, als führte er einen kleinen Hund spazieren, der kräftig an seiner Leine zog. Das war dann der Fifi-Trick. Zusätzlich bat unser Weltmeister auch immer einige Kinder auf die Bühne, die sich als JoJo-Künstler versuchen durften.

Nach der weltmeisterlichen Vorführung konnte das rote „Original-Billy-Panama-JoJo“ mit der goldenen Schrift auf beiden Seiten auch sofort hier im Kino für DM 2,85 pro Stück, aber auch anderntags beim Schreibwarenhändler Lechtenberg gekauft werden.

JoJo-Werbung.jpg

Der brennende Wunsch, dieses kleine rote Spielzeug unbedingt besitzen zu müssen und die soeben bestaunten Tricks des Weltmeisters nachzumachen, war sofort geweckt. Ein wahres JoJo-Fieber brach aus. Nicht nur bei uns Kindern.

Wenn sich nach dem Filmende der Vorhang schloss und das Licht anging, wurde im unteren Teil des Zuschauerraums eine große zweiflügelige Türe zur rechten Seite der Bühne geöffnet, um die filmbetäubte Besucherschar hier zum Hinterhof des Kinos herauszulassen, die sich dann nach ein paar weiteren Metern hinter dem Grundstück des Friseurmeister Wieschen vorbei auf der Seitenstraße wiederfand. So konnten, wenn es dann nachfolgende Vorstellungen gab, die nächsten Kinobesucher ohne Gegenverkehr gleich von vorn durch den Haupteingang hereingelassen werden.

Dieser hintere Kinoausgang hatte für uns Kinder eine besondere Anziehungskraft, weil wir wussten, dass diese Türe während der Kinovorstellungen nie abgeschlossen wurde. An heißen Sommertagen und Abenden stand manchmal auch einer der beiden Türflügel zur Lüftung sogar richtig offen. Ein dicker, lichtundurchlässiger Vorhang dahinter sollte verhindern, dass störendes Licht von draußen in den Zuschauerraum gelangte.

Diese Türe hatte etwas Verlockendes: fanden dahinter doch alle spannenden Filmabenteuer statt. Bei geöffneter Türe konnten wir die Filmmusik und die Szenen sogar von unserem Hof aus bestens hören. Nur eben nicht sehen. Ein unerträglicher Zustand, den hinzunehmen man kinobegeisterten Kindern nicht zumuten kann, oder? Unbemerkt und kostenlos ins Kino zu gelangen ging natürlich nicht ohne Risiko.

Uns trennte nur unsere bereits tausendfach mit Leichtigkeit bezwungene Hofmauer vom Wigger-Kino-Grundstück. Die war nie und nimmer ein Wagnis, wohl aber nach indianermäßigem Anschlich der Versuch, diese schwere Türe ins Flimmer-Reich, ohne bemerkt zu werden sehr leise und langsam zu öffnen, nur den Spaltbreit, der nötig war, um sich dann am Boden geduckt hindurchzuschieben. War der Vorhang innen aber nicht richtig überlappend zugezogen, was wir ja vorher nicht wissen konnten, waren wir durch das von draußen einfallende Licht sofort und von allen Zuschauern bemerkt verraten. Dann blieb nur noch die rettende Flucht über die Hofmauer oder das Einfahrtstor zur Seitenstrasse hinaus. Für diesen Tag war die Chance, umsonst ins Kino zu kommen, dann erledigt. Mist!!!

Hat man es aber doch geschafft, sich schon einmal unbemerkt in die „Schleuse“ zwischen Türe und dickem Vorhang zu schleichen, war nur noch ein besonders günstiger Moment abzuwarten, in dem es aufgrund einer lustigen oder spannenden Filmszene zu lautem Lachern oder Beifall unter den Zuschauern kommt. Schon war man drin, und das kostenlose Filmvergnügen konnte beginnen. Es sei denn, man hat beim Hereinkommen nicht bemerkt, dass die mit einer Taschenlampe bewaffnete resolute Platzanweiserin zufällig direkt neben dem Vorhang stand.

Eigentlich haben wir uns auch nur ganz wenige Male „für lau“ ins Wigger-Kino eingeschlichen.

Nur: heldenhaft geprahlt haben wir viel häufiger damit.

 


*) Apropos Kinoduft: Geruch, so sagt man, ist ein sehr starker Erinnerungsträger.
Doch die heutigen Kinos riechen anders: nach Bier, mexikanischem Pseudogebäck sowie Popcorn, das in derart großen Eimern ins Kino geschleppt wird, dass man glauben möchte, die Besucher wollen nicht ins Kino, sondern nur mal kurz ihr Pferd füttern.


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16 Antworten zu Alte Kinos: Wigger-Theater in Gelsenkirchen-Erle

  1. Ich hoffe doch sehr für dich, dass du als unmittelbarer Anrainer verbilligte Kinokarten bekommen hast.
    Das mit dem Kohlenpott kenne ich, vielleicht sogar noch schlimmer. Meine Verwandschaft wohnte in Kattowitz, Hindenburg und Beuthen – und mehr Kohlenpott geht nicht mehr. Ich war jedes Jahr dort in den Ferien und bin sonst nie mit solche dreckigen Sachen nach Haus gekommen.

  2. Herrliche Kinoerinnerungen, lieber Lo und so detailliert. Unter den von dir liebevoll geschilderten Bedingungen muss einer ja Cineast werden. An die Fuzzy-Filme erinnere ich mich auch noch, und an das Comiker-Duo Abbott und Costello, deren Filme immer ein bisschen aufregend und unheimlich waren.

    • Lo sagt:

      Lieber Jules,
      Abbott und Costello habe ich erst einmal gegoogelt, sind mir aber nicht erinnnerlich. Wir KInder liebten Herkules-Filme – und Maciste, den ebenfalls muskelbepackten Sohn des Herkules, Stan Laurel und Oliver Hardy – na ja, und dann kamen die Schlagerfilme….
      Ach ja: Der Krieg der Knöpfe! Und Toxi, das Negermädchen. Cowboyfilme sowieso.

  3. Welch eine schöne Erinnerung an die Kindheit. Wo kommen die alten Filmprogramme noch her,
    hast Du die gesammelt ? Ich durfte nur selten ins Kino, deshalb war es eine Besonderheit.
    Vielen, vielen Dank für die großartige Beschreibung aus dem Pott.
    Herzliche Grüsse, Petra vom Schreibteufelblog.

    • Lo sagt:

      Liebe Petra, Du bringst mich auf eine Idee: ich habe in der Tat noch richtig alte Filmprogramme. Ich werde sie fotografieren und demnächst hier einstellen.
      Herzliche Grüße zurück!

  4. Anonymous sagt:

    Danke! Vielen Dank. Viel Erinnerung wurde bei mir wach. JoJo – ohja! Ich hatte ihn tatsächlich in rot, konnte aber nicht so gut damit umgehen.
    Liebe Grüße

    • Lo sagt:

      Das brachten wir uns damals gegenseitig bei.
      Wobei die Schnur des kleineren Jojo an der Achse fest eingeklemmt war und nur das große Jojo durch die lockere Schnurschlinge an der Achse einen Freilauf hatte.

  5. Herr Ösi sagt:

    Eine wunderbare Liebeserklärung ans Kino.
    Ich habe noch gut den Gong im Ohr, ein erhabener, majestätischer Klang bevor es dunkel wurde.
    Das Kinderprogramm habe ich übersprungen und bin rasch beim Italowestern gelandet …

  6. Leider, leider gab es für uns Kinder damals kein Kino. Dafür war kein Geld da. Aber meine Eltern gingen ab und zu mal ins Kino. Und dann hatten wir für ungefähr 2 Std. den Fernseher zu Hause für uns. Natürlich war es uns verboten zum fernsehen aufzustehen, aber das macht die Sache ja erst spannend.
    Kino wurde mit den ersten Freunden interessant. Letzte Reihe rumknutschen! Welche Filme da liefen, war völlig uninteressant. 😉
    Grüßli 🙂

  7. iGing sagt:

    Wie selten wir (meine beiden Geschwister und ich) ins Kino durften, merkte man daran, dass wir einmal mit 50 Pfennig Eintrittsgeld ankamen, als es schon lange 60 Pfennig kostete. Denn wir durften nur Märchenfilme ansehen („Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ war ungeheuer spannend!) und von den Erwachsenenfilmen „Kohlhiesls Töchter“ mit Liselotte Pulver. Von Fuzzy und Django hörten wir nur die anderen reden (wir durften sonntags höchstens mal im Nebenzimmer einer dörflichen Gaststätte Lassie, Fury und Rintintin anschauen; Sinalco war Pflicht!).
    Irgendwann konnten unsere Eltern uns auch die Karl-May-Filme nicht verwehren, denn immerhin war es besser, man war im Kino als dass man sich sonstwo rumtrieb.
    Von den Knutschereien – ich gebe es zu, da weiß ich die Filme wirklich nicht mehr – haben sie ja nichts mitbekommen, die Kinobesitzer stellten sich auch auf einem Auge blind.

  8. Heinrich sagt:

    Lieber Lo,
    das Grün ist übergesprungen! Vielen Dank! 🙂
    Gruß Heinrich

Schreib mir! :-)